NASCAR-Legende Jimmie Johnson und seine Herausforderung IndyCar
Jimmie Johnson als einer der erfolgreichsten NASCAR-Piloten aller Zeiten spricht im Detail über seinen IndyCar-Wechsel: Was ihn an Grenzen bringt, was ihm Mut macht
Im Alter von 45 Jahren gibt Jimmie Johnson in zwei Wochen sein Renndebüt in der IndyCar-Serie. Damit ist er ein alter Rookie, aber nicht irgend einer.
In seiner NASCAR-Karriere, die allein in der Cup-Serie 20 Jahre und 686 Rennen umfasste, hat es Johnson bei Hendrick Motorsports auf sieben Titel und 83 Rennsiege gebracht. Jetzt steht er bei Chip Ganassi Racing unmittelbar vor dem Beginn seiner IndyCar-Karriere, deren Laufzeit derzeit niemand kennt.
Im Ganassi-Team hat Johnson in Person des aktiven Scott Dixon und des zurückgetretenen Dario Franchitti, die es zusammen auf zehn IndyCar-Titel bringen, die bestmöglichen Lehrmeister. Beide wissen, dass sich Johnson als die Motorsportlegende des 21. Jahrhunderts, die er ist, nicht einfach aus einer Laune heraus dem Formelsport zugewandt hat.
Johnson und der Formelsport: Wie aus Interesse Begierde wurde
Johnsons Herz hängt seit dem Kindesalter am Formelsport. Sein erstes Idol im Rennsport war Rick Mears. Aufgewachsen in Südkalifornien hatte der junge Jimmie schon früh die Ambition, später IndyCar-Rennen zu fahren. Gemeinsam mit seinem Großvater verfolgte er alle IndyCar-Rennen im Fernsehen, wobei er beim Grand Prix von Long Beach regelmäßig vor Ort war.
Im Mai 2004 besuchte Johnson zusammen mit Jeff Gordon, seinem Entdecker, langjährigen Teamkollegen und ebenfalls NASCAR-Legende, den Formel-1-Grand-Prix von Spanien in Barcelona. Dieses Erlebnis, das die beiden damals als Gäste von Juan Pablo Montoya und Williams genossen, sieht Johnson rückblickend zwar als wichtiges, aber nicht als das entscheidende.
Das entscheidende kam im November 2018, als Johnson in Bahrain mit dem damaligen McLaren-Piloten Fernando Alonso die Autos tauschte. Bei dieser Gelegenheit wurde aus Johnsons schwelendem Interesse eine Flamme der Begierde. Während der zweimalige Formel-1-Weltmeister den Hendrick-Chevrolet aus der NASCAR fuhr, drehte der siebenmalige NASCAR-Champion zahlreiche Runden in einem Formel-1-Boliden von McLaren. Diese Erfahrung war für ihn "anders als jede andere, die ich je gemacht habe", bekennt Johnson im Gespräch mit 'Motorsport-Total.com'.
26. November 2018: Johnson testet in Bahrain einen F1-Boliden von McLaren Foto: Motorsport Images
Anfangs sah es so aus als wäre McLaren für Johnson die wahrscheinlichste Adresse für eine erste IndyCar-Gelegenheit. Tatsächlich war für April 2020 ein Test für McLaren SP im Barber Motorsports Park angesetzt. Zwar fand dieser Test letzten Endes aufgrund des Ausbruchs der Coronavirus-Pandemie gar nicht statt.
Aber "Zak Brown (McLaren-Boss; Anm. d. Red.) und Fernando waren es, die einst den Test im Formel-1-Auto von McLaren ermöglichten. Zak glaubte an mich und er hatte entscheidenden Anteil daran, den [IndyCar-]Test anzusetzen, der leider nie zustande kam", so Johnson.
"Ich wollte aber unbedingt ein IndyCar ausprobieren, um herauszufinden, wie sich das anfühlt und wie weit weg ich unter Umständen sein würde. Ich wollte einfach den Ball am Rollen halten. Chip Ganassi Racing war da ein weiteres Team, mit dem ich Gespräche führte."
Ganassi überzeugte Johnson - Johnson überzeugte Ganassi
"Und dann, eines Tages, sagte Chip zu mir: 'Komm' doch einfach mal vorbei, fahr' das Auto und sag' mir dann, was du davon hältst'", erinnert sich Johnson und ist überzeugt: "Das war die richtige Herangehensweise. Sie lautete: Wenn es mir gefallen würde und das Team etwas Hoffnung in mir sehen würde, dann würden wir schauen, wie wir zusammen weitermachen können."
Ein Testtag im Juli auf dem Indianapolis-Rundkurs war genug, um Johnson ausreichend zu überzeugen, dass ihm IndyCar-Rennen gefallen würden. Und ja, das Team sah Hoffnung in ihm. Im Oktober gaben Ganassi und Johnson ihre Zusammenarbeit bekannt, um mit Carvana als Hauptsponsor des Ganassi-Honda mit der Startnummer 48 alle Rundstrecken- und Stadtkurs-Rennen im IndyCar-Kalender 2021 zu bestreiten. Das macht 13 Saisonrennen für Johnson. Tony Kanaan, IndyCar-Champion von 2004 und Indy-500-Sieger von 2013, fährt den #48 Ganassi-Honda bei den vier Ovalrennen im Kalender.Johnson und sein neuer Boss Chip Ganassi Foto: Motorsport Images
Johnsons Fortschritte sind offensichtlich. Beim Barber-Test lag er noch 3,7 Sekunden hinter der Bestzeit zurück. Beim zweiten Laguna-Seca-Test fehlten ihm 1,6 Sekunden. Aber seine ideale Runde - das heißt, seine besten Sektorzeiten zu einer Runde zusammengefügt - war laut Ganassi-Teammanager Mike Hull nur 0,7 Sekunden langsamer als die Bestzeit von Scott Dixon. Das ist beeindruckend und ermutigend. Bescheidenheit und Realismus aber lassen Johnson mit beiden Beinen fest auf dem Boden bleiben.
Testfahrten offenbaren: Wo Johnson noch zulegen muss
"Bezogen auf die Rundenzeiten im Vergleich zu meinen Teamkollegen [Dixon, Alex Palou und Marcus Ericsson], habe ich rund 60 Prozent des Defizits wettgemacht", bemerkt Johnson und weiß: "Die letzten 20 Prozent werden wohl die schwierigsten werden. Genau an diesem Punkt kommt jahrelange Erfahrung ins Spiel, und genau die habe ich nicht."
"Es ist mir aber gelungen", so der prominente IndyCar-Rookie weiter, "einen Großteil des [Rundenzeiten-] Rückstands wettzumachen. Ich fühle mich zunehmend wohler im Auto. Ich reagiere instinktiv und denke nicht mehr so viel nach. Natürlich stehen jede Menge auf Rennen auf mir völlig unbekannten Strecken bevor, aber zumindest an das Auto gewöhne ich mich mehr und mehr."
Johnson im Gespräch mit Ganassi-Teammanager Mike Hull Foto: IndyCar Series
Herauszufinden, was mit einem IndyCar möglich ist und was nicht, das ist selbst für diejenigen, die im Formelsport groß geworden sind, eine schwierige Aufgabe. Für einen Fahrer aber, der zwei Jahrzehnte lang Autos bewegt hat, die mehr Leistung als Grip haben, und die ihn vorzeitig spüren lassen, wenn sie auszubrechen drohen, ist es in jeder Kurve aufs Neue ein Mutprobe, die Haftungsgrenze der breiten Firestone-Reifen aus dem Cockpit eines flachen und über viel Abtrieb verfügenden Formelautos zu finden. Dieses "Spürgefühl" ist da einfach viel weniger stark vorhanden.
Spaß am "unwohlen Gefühl" im IndyCar-Cockpit
"Beim Versuch, Hinweise darauf zu bekommen, wann ich aus langsamen Kurven heraus wieder aufs Gas gehen kann, habe ich mich ein paarmal gedreht", grinst Johnson und hat erkannt: "In einem IndyCar musst du soweit voraus sein. Du musst antizipieren statt zu reagieren. Und das Auto ist so steif. In einem NASCAR-Auto absorbiert die Radaufhängung so viel von der Neigung und Verwindung des Chassis. In einem IndyCar-Boliden hingegen fährst du auf der vollen Lauffläche des Reifens. Das geht dann entweder gut oder eben nicht."
Das Auto für Johnsons erstes IndyCar-Jahr: Der #48 Ganassi-Honda Foto: Chip Ganassi Racing
"Ich rede mir aber nicht ein, dass ich schon am Limit wäre", gibt Johnson zu und beschreibt seinen Lernprozess: "Ich lege eine Runde hin und habe das Gefühl, das Auto so schnell gefahren zu haben wie noch nie. Dann komme ich an die Box, sehe die Rundenzeiten und denke: 'Oh, wohl doch nicht! Da geht noch mehr.' Aber ganz ehrlich, das macht Spaß."
"Offen gestanden fühle ich mich dabei oft unwohl, aber auf eine gute Art und Weise. Denn ich fordere mich ständig selbst heraus. Ich denke: 'OK, diesmal nur halb so viel bremsen. Aber wird das gutgehen?' Und dann klappt es und ich spüre, dass noch mehr Potenzial drinsteckt. Ich denke: 'Du verarschst mich doch!' Beim nächsten Mal dringe ich dann weiter in diesen Bereich vor und reduziere das Bremsen noch mehr. Das macht Spaß", so der siebenmalige NASCAR-Champion.
Es wird mit Sicherheit eine ganze Weile dauern bis Dixon, Palou und Ericsson ihren neuen Teamkollegen um Tipps fragen werden. Johnson aber kann seine Fortschritte daran erkennen, inwiefern sich sein eigenes Feedback über das Auto mit dem seiner Teamkollegen deckt.
"Nach unserem jüngsten Laguna-Seca-Test hatten wir eine Telefonkonferenz mit den Ingenieuren. Zu den Abstimmungsänderungen, die von Scott, Marcus und Alex besprochen wurden, hatte ich dieselben Rückmeldungen. Das zeigt, dass ich die richtigen Dinge fühle", sagt Johnson und stellt heraus: "Zugegeben, ich war sieben Zehntelsekunden hinter Scotts Rundenzeiten zurück. Der Kerl ist einfach etwas Besonderes. Diese Konferenz aber hat mich wirklich ermutigt."
Wissen um die "unschätzbaren" Ressourcen im Team
Johnson gibt zu, dass es sich seltsam anfühlt, im Alter von 45 Jahren ein Neuling zu sein. "Du rechnest einfach nicht damit, in diesem Abschnitt deines Lebens zu den Grundlagen zurückgehen zu müssen", sagt er, fühlt sich aber weder von seiner Umgebung eingeschüchtert noch von einem direkten Vergleich mit einem der Größten der IndyCar-Szene.
Bei Ganassi kann Johnson auf die Tipps von Scott Dixon und Dario Franchitti zählen Foto: IndyCar Series
Was die Fitness angeht, ist das Alter kein Faktor. Denn Johnson - schlank und rennfit wie immer - hat sich die Ratschläge von Jim Leo von der renommierten Organisation PitFit zu Herzen genommen, die da lauten, sich geeignete Trainingsgeräte nach Hause liefern lassen. Und jetzt, da er über die körperlichen Anforderungen, ein IndyCar zu fahren, Bescheid weiß, ist die Anpassung an sein neues Abenteuer nur noch eine mentale Angelegenheit, wie Johnson sagt.
"Wir beobachten gerade, wie Athleten in allen möglichen Sportarten dank gesunder Ernährung und Disziplin ihre Karrieren verlängern. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich noch nicht sagen, wie konkurrenzfähig ich sein werde, aber die Beispiele Tom Brady in der NFL, Scott Dixon in der IndyCar-Serie und mein eigenes in der NASCAR zeigen, dass Verlangen und Entschlossenheit das Fundament für Erfolg sind."
Mit 45 Jahren ist Johnson nicht der typische IndyCar-Rookie - aber fit wie eh und je Foto: IndyCar Series
Wenn es jemanden gibt, der genau das sogar in einem völlig anderen Zweig seines ausgesuchten Sports kann, dann ist es Jimmie Johnson.
Leute, schaut zu und genießt es.
Mit Bildmaterial von IndyCar Series / Chip Ganassi Racing / Motorsport Images.
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